5. Carl Schurz Biographie

Carl Schurz - Der deutsche Amerikaner

Am 21. Juli 1849 schrieb der zwanzigjährige Bonner Student Carl Schurz in der Festung Rastatt einen Abschiedsbrief an seine Eltern. Schurz war Adjutant des Festungskommandeurs der revolutionären badisch-pfälzischen Armee, die sich in Rastatt verschanzt hatte. Bis zuletzt hatte diese Armee für die demokratischen Ideale der inzwi-schen aufgelösten Frankfurter Nationalversammlung gekämpft, für die erste demokratische Verfassung Deutschlands, der einzigen, die von einer Volksbewegung mit Waffen verteidigt wurde (Gustav Heinemann). Der Kampf war nun aussichtslos geworden. Nach einer dreiwöchigen Belagerung war der Kommandeur „auf Gedeih und Verderb“ zur Kapitulation vor den preußischen Truppen gezwungen. Deren Oberbefehlshaber war der Prinz von Preußen, von dem man all-gemein glaubte, daß er im Jahr zuvor, am 18. März 1848, in Berlin den Befehl gegeben hatte, auf das Volk zu schießen. Das hatte ihm den Titel „Kartätschenprinz“ eingetragen. Von ihm erwartete Schurz keine Gnade. Als Angehöriger der Rheinprovinz galt Schurz als Preuße; er hatte die Waffe gegen seinen König erhoben und rechnete deshalb damit, standrechtlich erschossen zu werden.

In einem Saal des Rastatter Schlosses tagte wenig später ein erstes Standgericht. Neunzehn Revolutionäre wurden dort zum Tode verurteilt. Viele weitere erlitten an anderen Orten das gleiche Schicksal. Die neunzehn Verurteilten wurden alle hingerichtet. Ein Gedenkstein auf dem Alten Friedhof in Rastatt erinnert heute noch an sie. Auf diesem Gedenkstein ist eine gesonderte Plakette dem Studenten Carl Schurz gewidmet, der dem Standgericht entkommen war. Die Inschrift lautet: „Zur Erinnerung an Carl Schurz, dem edlen Kämpfer für Frei-heit und Recht“. Schurz war kurz vor der Übergabe am 23. Juli 1849, als in der Festung die Signale zum Antreten ertönten, eine abenteuerliche Flucht in die Schweiz gelungen. In ganz Europa wurde sein Na-me bekannt, als er sich im nächsten Jahr unter falschem Namen nach Berlin schlich, seinen Lehrer und Freund Gottfried Kinkel aus dem Zuchthaus Spandau befreite und mit ihm in England Zuflucht fand..

Dort blieb Schurz nicht lange. Er hatte nicht die Geduld, mit den ande-ren flüchtigen Revolutionären in London zu warten, bis irgendwann ein neuer Umsturz ihre Rückkehr nach Deutschland ermöglichen würde. Da bot es sich an, in das Land auszuwandern, das ihm wie damals Hunderttausenden eine hoffnungsvolle Zukunft in Freiheit versprach: nach Amerika.

Im September 1852 betrat er – 23 Jahre alt – amerikanischen Boden, gemeinsam mit seiner 19-jährigen Frau Margarethe, die fünf Jahre später den ersten Kindergarten Amerikas gründete. Im Selbstunterricht lernte er die englische Sprache. Dann beteiligte er sich aktiv am amerikanischen politischen Leben. Bald galt er in der neuen Heimat als Sprecher der Deutschamerikaner. Diese waren für amerikanische Poli-tiker besonders wichtig, weil sie wegen ihrer großen Zahl bei knappen Wahlergebnissen den Ausschlag geben konnten.

Als Helfer und Freund Abraham Lincolns kämpfte Schurz für die Ziele, die seinen aus revolutionärer Zeit in Deutschland entstammenden Idealen entsprachen: für die Befreiung der Sklaven, für einen der Allgemeinheit verpflichteten öffentlichen Dienst, für den Schutz des kleinen Mannes in der Wirtschaftspolitik, gegen die Korruption und später gegen einen um die Jahrhundertwende auch in Amerika um sich greifenden außenpolitischen Imperialismus.

In einem beispiellosen Aufstieg diente er seiner neuen Heimat schon mit 32 Jahren als Botschafter in Madrid. Dann war er Brigadegeneral im Bürgerkrieg, später Senator in Washington und amerikanischer In-nenminister, schließlich der weithin beachtete „elder Statesman“, Chefredakteur der New Yorker Evening Post und vielgelesener Kom-mentator in Harper’s Weekly. Es gab in fünf Jahrzehnten kaum einen amerikanischen Präsidenten, dem er nicht Ratschläge für Wahlkampf und Antrittsrede erteilt hätte, Ratschläge, die zumeist willkommen waren, in jedem Falle aber sehr ernst genommen wurden..

Schurz war ein großer Redner. Einige der Schlußsätze seiner Reden werden heute noch zitiert, so sein Satz zu den doppelten Loyalitäten der Einwanderer, mit dem er die oft fremdenfeindlich gesonnenen geborenen Amerikaner beschwichtigen wollte: „Wer sein altes Vaterland nicht ehrt, ist auch des neuen nicht wert. Wer seine Mutter nicht verehrt, der wird auch seine Braut nicht lieben.“ Oder seine Abwandlung der Parole: „Right or wrong, my country!“, die auch in Amerika zur Rechtfertigung einer imperialistischen Politik herangezogen wurde, einer Politik, die er in seinen letzten Lebensjahren so entschieden bekämpfte. Schurz ergänzte diese Parole: „My country, right or wrong; if right, to be kept right, if wrong, to be set right!”

In amerikanischen Geschichtsbüchern erscheint Carl Schurz als einflußreicher Reformer und Mahner; in Deutschland ist die Erinnerung an ihn verblaßt. Zu Unrecht: aus der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen ist er nicht wegzudenken. Mit den Idealen der deutschen Freiheitsbewegung von 1848 leistete er einen wichtigen Beitrag zur amerikanischen Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ex-Präsident Cleveland rühmte in seinem Nachruf auf Schurz in dessen Todesjahr 1906 die Unerschrockenheit, mit der Schurz für Reformen in öffentlichen Angelegenheiten eingetreten sei, ohne auf die Zahl seiner Gegner zu achten, selbst wenn diese der eigenen Partei angehörten. Sein Freund Mark Twain nannte ihn einen Lotsen, dem er unbedingt vertraut habe; dieses Vertrauen sei nie enttäuscht worden. Und im Spiegel seines Lebens als Amerikaner lassen sich die Wurzeln erkennen, die in Deutschland eine durchaus eigenständige politische Tradition von Demokratie und Rechtsstaat begründeten, trotz aller Umbrüche und Zusammenbrüche, die sie immer wieder verdeckten.


 
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