Abschiedsinterview mit der Studentenzeitschrift „Der kleine Advokat“

1. Abschiedsinterview mit der Studentenzeitschrift „Der kleine Advokat“ (2/2003)

Herr Prof. Geiger, nach nunmehr zehn Jahren in Leipzig werden Sie emeritiert und damit die Fakultät verlassen. Was war damals 1993 ihre Motivation, nach Leipzig zu kommen?

Da muß ich etwas weiter ausholen. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für internationale Beziehungen und internationales Recht. Das fing schon in meiner Studienzeit an, eigentlich sogar noch eher. Ich war schon als Gymnasiast im Rahmen eines Schüleraustausches ein Jahr lang an einer High-School in Amerika. Nach dem Abitur habe ich in München Jura studiert. Hier gab es einen bekannten Völkerrechtler, Friedrich Berber, der gerade aus Indien kam. Er war dort Berater der indischen Regierung. Man kann sagen, zu ihm sind alle “gepilgert”, auch Studenten aus anderen Fachbereichen. Nach meinem Staatsexamen promovierte ich dann bei ihm über die Kaschmir-Frage. Nach dem zweiten Staatsexamen hätte ich mich gern bei Berber habilitiert. Es war aber leider so, daß er dann emeritiert wurde. Es war ungewiß, wann der Lehrstuhl wieder besetzt würde. Ich begann deshalb mein Berufsleben bei der Justiz. Bei der Staatsanwaltschaft München I arbeitete ich hauptsächlich in der Abteilung für nationalsozia-listische Gewaltverbrechen. Das hat mir einen tieferen Einblick in die Zeit des zweiten Weltkriegs gegeben, die ich nur als Kind miterlebt hatte. Ich war danach Amtsrichter und schließlich Richter am Oberlandesgericht. Stets galt aber mein besonderes Interesse dem Völkerrecht. Als nach vielen Jahren Berbers Lehrstuhl mit Herrn Simma – heute Richter am Internationalen Gerichtshof – wiederbesetzt wurde, habilitierte ich mich bei ihm neben meinem Beruf und war dann nebenberuflich Privatdozent und außerplanmäßiger Professor.

An der Uni München hielt ich vor allem die Vorlesungen „Europarecht“ und
„ Grundgesetz und Völkerrecht“, also Staatsrecht III. Aus dieser Vorlesung entstand dann auch mein Lehrbuch. Ich war in München sehr zufrieden, zum einen mit meiner Tätigkeit als Richter, zum anderen mit der als Professor. Dann kam jedoch die Wende; ich wurde 1992 darauf aufmerksam gemacht, daß in Leipzig eine Professur für Völker- und Europarecht ausgeschrieben sei, das wäre doch etwas für mich, und je mehr ich darüber nachdachte, desto verlockender erschien mir die Aufgabe, einen Völker- und Europarechtslehrstuhl ganz neu aufzubauen. Das empfand ich als große Herausforderung. Ich bewarb mich also und kam auf Platz eins der Liste, worauf ich den Ruf erhielt, den ich angenommen habe.

Was waren Ihre ersten Eindrücke, als Sie nach Leipzig gekommen sind?

Der erste Eindruck von Leipzig war sehr trist, ich habe mir aber gedacht, es wird nicht lange dauern, dann ist hier alles renoviert oder ganz neu aufgebaut. Man muß dazu sagen, daß die Deutschen damals in einer euphorischen Stimmung waren – man kann sich das heute vielleicht gar nicht mehr so richtig vorstellen, auch wenn die Wende gerade vierzehn Jahre her ist. Das war auch meine Stimmung, als ich zum ersten Mal nach Leipzig kam. Wir haben die Zukunft ein wenig durch eine rosarote Brille gesehen.

Wie haben sich die Fakultät und auch die Stadt verändert, in der Zeit, in der Sie hier gewesen sind?

Das ganze Ausmaß der Veränderung kann man heute nur noch schwer fassen. Denken Sie nur an den Hauptbahnhof von damals, das war eine traurige Angelegenheit – und dann schauen Sie sich den Hauptbahnhof heute an, das kann man mit einander überhaupt nicht mehr vergleichen und das gilt eigentlich für die ganze Stadt. Leipzig hat sich enorm entwickelt; die Menschen hier sind besonders aktiv, die Kulturszene ist ohnehin hochstehend, so daß ich alles in allem denke, Leipzig muß man heute in einem Atemzug nennen mit Hamburg, Köln, Frankfurt oder München. Was die Leipziger Juristenfakultät angeht, sie war einmal die berühmteste in Deutschland. Von diesem Ruf zehrt sie noch heute. Das bedeutet eine Verpflichtung, bildet auf der anderen Seite aber auch einen willkommenen Ansporn. Wenn Sie sich – nur als Indiz – die Mitarbeit zahlreicher Kollegen hier an renommierten Kommentaren oder anderen vielgele-senen Werken betrachten, meine ich, dass wir auf gutem Wege sind.

Allerdings beschleicht mich ein Gefühl von Bitterkeit, wenn ich von der Otto-Schill-Straße kommend am neuen Juridicum vorbeigehe. Dort wurde uns ein Haupteingang versagt. Der Zugang ist nur durch einen Hintereingang zwischen den Müllcontainern eines Billigmarkts und Maggis Kochstudio möglich, mit dem man uns in der Beschriftung auf eine Stufe gestellt hat. Das ist keine bloße Äußerlichkeit, sondern eine Zumutung. Jedem Besucher fällt sofort die Würdelosigkeit dieses Zugangs ins Auge und er schließt – zu Unrecht – auf die Fakultät. Das muß unbedingt geändert werden.

…. Es ist ja sehr interessant, daß für Studenten aus Osteuropa und Asien Leipzig wirklich ein Begriff ist. ….

…. Ja, ich habe auch verhältnismäßig viel zu tun mit Studenten aus den Beitrittsländern, aber auch zum Beispiel aus Aserbeidschan oder Kasachstan bis hin nach China. Wir bekommen viele Anfragen aus diesen Ländern für unsere Magister-Aufbaustudiengänge „Recht der europäischen Integration“ und „Europäisches Recht“. Hinzu kommt der interdisziplinäre Studiengang „Europastudien“. Ich glaube, diese europäische Ausrichtung kann eine große Attraktion werden. Wir machen dafür überhaupt keine Werbung und trotzdem sind diese Aufbaustudiengänge voll belegt.

Können Sie kurz etwas zur Geschichte des Aufbaustudienganges sagen?

Schon in meiner ersten Zeit in Leipzig habe ich mich mit Herrn Kollegen Rauscher beraten und wir sind uns einig geworden, daß wir einen Aufbaustudiengang schaffen wollten, der mit Europarecht im weitesten Sinne zu tun hat. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß es wegen des großen Unterschieds zwischen dem öffentlich-rechtlichen und dem privatrechtlichen, rechts-vergleichenden Teil sinnvoll sei, das Vorhaben in zwei Studiengänge aufzuteilen – und das haben wir dann auch gemacht. Die beiden Studiengänge sind also gemeinsam entstanden, allerdings jeder mit einer eigenen Magisterordnung. Es gab von meiner Seite zwei Gründe, weshalb ich mich für diesen Aufbaustudiengang einsetzte. Der eine Grund war, ausländischen Studenten hier an der Juristenfakultät einen Abschluß zu ermöglichen, auch wenn sie nicht das deutsche Staatsexamen anstrebten. Auf der anderen Seite sollten diejenigen deutschen Studen-ten belohnt werden, die wenigstens ein Semester mit europarechtlichen Studien im Ausland verbracht hatten. Sie können nach ihrem Staatsexamen diesen Magisterkurs belegen, der ja neben zwei Studiensemestern in Leipzig auch ein Auslandssemester fordert. Dieses Auslands-semester, das sie bereits vor dem Ersten Staatsexamen absolviert haben, wird angerechnet.

Wie wird es nun nach Ihrem Ausscheiden mit dem Aufbaustudiengang und mit dem Lehrstuhl weitergehen?

Das Aufbaustudium ist ja nicht an meine Person gebunden. Die Professoren der Fakultät, die in ihren Vorlesungen und Seminaren auch europarechtliche Fragen behandeln, werden diese auch weiterhin für Aufbaustudenten öffnen. Es war eine sehr erfreuliche Erfahrung des Studiengangs, dass so viele Kollegen mit ihren Lehrveranstaltungen und bei der Abnahme von Magisterprüfungen zum Gelingen beigetragen haben. Das war auch notwendig, denn das Ministerium machte in seiner Genehmigung des Aufbaustudiengangs zur Auflage, dass der Studiengang keine zusätzlichen Kosten verursachen dürfe. Nebenbei bemerkt: Die Dresdener Fakultät, die mit einigem zeitlichem Abstand einen Studiengang „Internationale Beziehungen“ einrichtete, erhielt demgegenüber zwei Professuren bewilligt.

Was meinen Lehrstuhl angeht, werden wir sehen, wie es weitergeht. An sich sollte ein Lehr-stuhlvertreter bestellt werden. Dies ist noch nicht geschehen. Notfalls müssen für die einzel-nen Lehrveranstaltungen Lehraufträge erteilt werden. Damit ist auf jeden Fall zu rechnen.

Was mir am meisten Sorgen macht, ist jedoch die Situation in der Bibliothek. Die Evaluie-rungskommission hat jüngst festgestellt, daß die Bibliothekssituation katastrophal sei – und das ist leider nicht übertrieben. Es werden nicht einmal mehr die notwendigsten Bücher angeschafft; vor allem aber, und das ist das allerschlimmste, es werden die wichtigsten Zeitschriften abbestellt, von denen wir sozusagen leben. Sie sehen dort hinten die vier 2002 erschienenen Hefte des American Journal of International Law. Diese Hefte habe ich aus München mitgebracht, weil die Studierenden, die im Mai an unserem Leipzig-Miami-Seminar teilnehmen werden, dringend die Beiträge brauchen, die dort veröffentlicht sind. In Leipzig sind sie nicht erhältlich, weil die Deutsche Bücherei ja nur deutsches Schrifttum archiviert und die Unibibliothek diese für das Völkerrecht unentbehrliche Zeitschrift abbestellt hat. Seminare wie das Leipzig-Miami-Seminar können mit den hiesigen Beständen gar nicht mehr abgehalten werden.

Wird es Sachen geben, die Sie an Leipzig besonders vermissen werden?

Ja natürlich! Leipzig ist für meine Frau und mich zehn Jahre der zweite Mittelpunkt unseres Lebens gewesen und da vermisse ich sehr viel. Leipzig ist eine Großstadt im kleinen. Es hat vor allem im kulturellen Leben alles, was eine Großstadt braucht, aber man erreicht es in zehn Minuten zu Fuß. Was ich auch besonders vermissen werde sind die jungen Leute an der Uni, die zwar wie die meisten jungen Leute idealistisch gesonnen, aber gleichwohl tolerant und vor allem erstaunlich ideologiefrei geblieben sind. Natürlich kommt hinzu, dass ich mich jünger gefühlt habe als ich bin, weil ich ständig von Studenten umgeben war.

Was kommt für Sie nach Leipzig?

Als ich nach Leipzig kam, glaubte ich, ich könnte jetzt als hauptamtlicher Professor mehr wissenschaftlich arbeiten als mir dies früher neben meinem Richterberuf möglich war. Es hat sich aber herausgestellt, daß man als Lehrstuhlinhaber eigentlich in der Rolle eines “Unter-nehmers” ist und dieser Unternehmer hat ständig mit Verwaltungsarbeiten im weiteren Sinn zu tun. Diese Tätigkeit nimmt sehr viel Zeit in Anspruch und stört die Ruhe, die man zum Beispiel zum Verfassen wissenschaftlicher Aufsätze oder Bücher bräuchte. Jetzt habe ich als emeritierter Professor immer noch die Möglichkeit, wissenschaftlich zu arbeiten, aber nicht mehr die Pflichten, die einen an dieser Arbeit hindern können. Für die nächsten Monate habe ich mir die Neuauflage meines EU/EG-Kommentars vorgenommen.

Wenn ich allerdings das laufende Jahr betrachte, dann nimmt die Lehre doch noch einen beträchtlichen Platz ein In zwei Wochen werde ich in Kambodscha vier Wochen lang Völker-rechtsunterricht für Regierungsbeamte geben und kambodschanischen Regierungsstellen beratend zur Verfügung stehen. Im Juni bin ich eingeladen, ein Blockseminar an der juristi-schen Fakultät in München mitzuleiten, und zwar, wie wir es einmal auch von Leipzig aus gemeinsam mit München unternommen haben, auf der Fraueninsel im Chiemsee. Im Septem-ber halte ich dann als Leipziger Vertreter ein Seminar im Rahmen des Utrecht Network an der Universität Bologna. Besonders hervorheben möchte ich auch noch unser im Mai gemeinsam mit Prof. Goerlich und zwei amerikanischen Professoren veranstaltetes Leipzig-Miami-Blockseminar, …

… Wird dieses Seminar auch danach weitergeführt werden? ….

…. Unsere Planungen sehen vor, dass in jedem Jahr eine solche Begegnung stattfindet, und zwar abwechselnd in Leipzig oder Miami. Im nächsten Jahr wäre dann also wieder eine Reise mit acht Leipziger Studierenden nach Miami fällig. Ob das so bleiben wird, hängt von der Finanzierung, aber auch von meinem Nachfolger ab oder von demjenigen Kollegen, der sich hier in Leipzig der Sache annimmt. Ich bin sicher, daß sich Prof Goerlich, der ja dieses Seminar im Mai mit mir gemeinsam abhält, hierfür einsetzen wird.

Würden Sie gern auch in Zukunft das eine oder andere Blockseminar in Leipzig halten?

Ja, das könnte ich mir gut vorstellen, ich müßte dann natürlich dazu eingeladen werden.

Gibt es abschließend etwas, das sie Leipzig und der Fakultät besonders wünschen würden?

Ich wünsche der Juristenfakultät vor allem, daß sie die richtigen Entscheidungen in der Schwerpunktbildung trifft, die es nach der neuen JAPO geben wird. Einer der Schwerpunkte wird das internationale Recht im weiteren Sinne sein. Es wird dann sehr wichtig sein, was meinen Bereich angeht, einen genuinen Völker- und Europarechtler zu berufen, der diese Fächer überzeugend vertritt. Das wird auch für die Außendarstellung der Fakultät von großer Bedeutung sein. Man kann diese Fächer, die manchem vielleicht als Orchideenfächer erschei-nen, nicht nebenbei versorgen lassen

…. Wird die Schwerpunktbildung von der Fakultät vorgenommen werden? ….

Ja, die Fakultät ist hier selbst gefragt, und ich bin überzeugt, daß es dabei einen Schwerpunkt im internationalen Recht – öffentlichrechtlicher und zivilrechtlicher Bereich – geben wird. Das ist für unsere deutschen Studierenden wichtig, weil die praktische Bedeutung des Europa- und Völkerrechts immer mehr zunimmt, und für die Öffnung Leipzigs nach draußen, weil wir insbesondere nach Osten eine so starke Anziehungskraft haben. ….

Herr Prof. Geiger, wir bedanken uns für das interessante und freundliche (Abschieds-)Interview. Wir würden uns freuen, Sie auch in den kommenden Semestern das eine oder andere Mal in Leipzig begrüßen zu können. Für Ihre Zukunft wünschen wir Ihnen und Ihrer Frau alles Gute.


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